Informationen und Hinweise

1/1/2023
Das revidierte Erbrecht gilt seit dem 1. Januar 2023. Es empfiehlt sich, bestehende Testamente und Erbverträge zu überprüfen und gegebenenfalls an die neuen Möglichkeiten anzupassen. Das neue Erbrecht findet Anwendung auf Todesfälle, die am oder nach dem 1. Januar 2023 eingetreten sind. Mit den neuen Bestimmungen wird die Verfügungsfreiheit der Erblasser erhöht und auch die Unternehmensnachfolge vereinfacht.

Die wesentlichen Neuerungen des Erbrechts sind:
1. Reduzierung der Pflichtteile der Nachkommen auf die Hälfte des gesetzlichen Erbanspruchs und Abschaffung der Pflichtteile der Eltern. Der Pflichtteil des Ehegatten bleibt wie bisher bei der Hälfte des gesetzlichen Erbanspruchs.
2. Verlust des Pflichtteilsanspruchs im Scheidungsverfahren und bei Auflösung einer eingetragenen Partnerschaft bereits mit Einleitung des Scheidungsverfahrens.
3. Erweiterung der verfügbaren Quote bei der sog. "Ehegattennutzniessung" zu Gunsten des überlebenden Ehegatten am Nachlass bei gemeinsamen Kindern.
4. Einführung eines grundsätzlichen Schenkungsverbots bei Erbverträgen.
5. Klarstellung der Herabsetzungsreihenfolge für erbrechtliche Ansprüche: 1. gesetzliche Erbfolge (Intestaterbfolge), 2. Zuwendungen von Todes wegen und 3. Zuwendungen unter Lebenden.
6. Klarstellung, dass Guthaben aus der gebundenen Selbstvorsorge (Säule 3a) nicht in den Nachlass fallen, aber bei der Pflichtteilsberechnung zu berücksichtigen sind.
7. Klarstellung, wie die Pflichtteile bei überhälftiger Vorschlagszuweisung berechnet werden (Überhälftig: einem Ehegatten wird ehevertraglich mehr als die Hälfte des sog. Vorschlages unter dem ordentlichen Güterstand der Errungenschaftsbeteiligung zugewiesen) ▸ weitere Hinweise

1/1/2023
Ebenfalls per 1. Januar 2023 sind die neuen Bestimmungen des Aktienrechts in Kraft getreten, die auch für die Gesellschaften mit beschränkter Haftung GmbH gelten. Während bei der AG und der GmbH Gründungen und Statutenänderungen schon immer öffentlich beurkundet werden mussten, gilt dies nun neu auch für Genossenschaften: Seit 1. Januar 2023 muss nicht nur die Neuerrichtung einer Genossenschaft zwingend öffentlich beurkundet werden (Art. 830 OR), sondern auch jede Statutenänderung ▸ weitere Hinweise

Für die Anpassung bestehender Statuten (AG, GmbH) an die nach neuem Recht gegebenen Möglichkeiten (z.B. virtuelle Generalversammlungen) bietet sich eine auf die Bedürfnisse der Gesellschaft ausgerichtete Überprüfung der bisherigen Statuten an. Aber was geschieht, wenn keine Prüfung der bisherigen Statuten erfolgt? Müssen die Statuten revidiert werden? ▸ Besteht Handlungsbedarf?

15/2/2015
Der Fall Freitas
Am 23. September 2013 hat die eidgenössische Wettbewerbskommission (WEKO) zuhanden der Kantone und des Bundesrats eine Empfehlung betreffend Freizügigkeit für Notare und Urkunden abgegeben und u.a. unter Verweis auf Urteile des EuGH vom 24. Mai 2011 im bilateralen Verhältnis Schweiz - EU eine Freizügigkeit der Notare bejaht; gemäss EuGH sei die notarielle Beurkundungstätigkeit keine mit öffentlicher Gewalt verbundene Tätigkeit, was zur Anwendung des Freizügigkeitsabkommens führe. Mit Beschluss vom 7. Januar 2015 hat der EuGH jedoch eine entsprechende Individualklage abgewiesen. Der “Fall Freitas” gab Anlass zu einer Stellungnahme von Dr. Schmiedlin, damals noch in der Funktion als Präsident des Schweizerischen Notarenverbandes SNV • ▸ Text
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Blick vom Kleinbasel über den Rhein zur Augustinergasse 5, rechts das Weisse Haus

Das neues Erbrecht

Die wichtigsten Neuerungen des am 1. Januar 2023 in Kraft getretenen revidierten Erbrechts sind folgende:

Anpassung der Pflichtteile

Der Pflichtteil der Nachkommen wurde gekürzt auf neu ½ des gesetzlichen Erbanspruchs (bisher ¾). Der Pflichtteil des Ehegatten beträgt wie bisher ½ des gesetzlichen Erbanspruchs. Wer einen Ehegatten und/oder Nachkommen hinterlässt, kann somit neu über die Hälfte des Nachlasses frei verfügen; bisher betrug die verfügbare Quote 3/8 des Nachlasses.

Aufgehoben wurde der Pflichtteil der Eltern. Dieser war zu berücksichtigen, wenn jemand verstarb, ohne Nachkommen zu hinterlassen. Aber: Das gesetzliche Erbrecht der Eltern besteht weiterhin. Dies bedeutet, dass bei einem kinderlos verstorbenen Erblasser der gesamte Nachlass an die (noch lebenden) Eltern fällt. Will man dies verhindern, muss testamentarisch oder erbvertraglich anderweitig über den Nachlass verfügt werden. Da die Eltern keinen Anspruch mehr auf einen Pflichtteil haben, können somit Personen ohne andere Pflichtteilserben (Ehegatte, Nachkommen) frei über ihren gesamten Nachlass verfügen, auch wenn die Eltern noch leben.

Ehegattennutzniessung

Es besteht wie bisher die Möglichkeit, dem überlebenden Ehegatten, wenn gemeinsame Kinder vorhanden sind, an Stelle eines Erbanteils die Nutzniessung am gesamten den Kindern zustehenden Nachlass einzuräumen. Die Nutzniessung tritt an die Stelle des dem überlebenden Ehegatten zustehenden Erbrechts. D.h., der überlebende Ehegatte erhält in diesem Fall keinen Erbanteil zu Eigentum, sondern die Nutzniessung am Erbanteil der Kinder. Der Erbanteil der Kinder umfasst aber bei der Wahl der “Ehegattennutzniessung” (Art. 473 ZGB) nicht den ganzen Nachlass, sondern neu nur die Hälfte (bisher ¼). Über die andere Hälfte kann der Erblasser frei verfügen. Er kann sie beispielsweise auch dem überlebenden Ehegatten zuweisen. In diesem Fall erhält der überlebende Ehegatte die Hälfte des Nachlasses als Erbe zu Eigentum und an der anderen Hälfte, die an die gemeinsamen Kinder fällt, die Nutzniessung. Ob die Einräumung einer Nutzniessung wirtschaftlich sinnvoll ist, ist im Einzelfall zu klären.

Verlust des Pflichtteils im Scheidungsverfahren

Neue Bestimmungen gelten im Falle eines Scheidungsverfahrens. Ist beim Tode des Erblassers ein Scheidungsverfahren hängig, verliert der überlebende Ehegatte seinen Pflichtteilsanspruch, wenn das Verfahren auf gemeinsames Begehren eingeleitet oder nach den Vorschriften über die Scheidung auf gemeinsames Begehren fortgesetzt wurde, oder wenn die Ehegatten mindestens 2 Jahre getrennt gelebt haben. Entsprechendes gilt bei Auflösung einer eingetragenen Partnerschaft sinngemäss. Allerdings bleibt während der Dauer des Scheidungsverfahrens der gesetzliche Erbanspruch des Ehegatten weiterhin bestehen, d.h. er erbt, wenn der Erblasser nicht ein entgegenstehendes Testament verfasst.

Vorschlagszuweisung

Wer seinen Güterstand nicht ehevertraglich geändert hat, lebt in der Schweiz unter dem ordentlichen (gesetzlichen) Güterstand der Errungenschaftsbeteiligung. Unter diesem Güterstand setzt sich das eheliche Vermögen zusammen aus dem Eigengut jedes Ehegatten und der Errungenschaft beider Ehegatten. Das Eigengut umfasst etwas vereinfacht ausgedrückt alle Vermögenswerte, die ein Ehegatte bereits bei Eheschluss besessen hat oder die ihm während der Dauer der Ehe unentgeltlich (Erbschaften, Schenkungen etc.) zugefallen sind. Demgegenüber bilden die während der Dauer der Ehe entgeltlich erworbenen Vermögenswerte, d.h. insbesondere die Ersparnisse aus Arbeitserwerb etc., die Errungenschaft.
Bei Auflösung des Güterstandes nimmt zunächst jeder Ehegatte seine Eigengüter an sich. Ein nach Bezahlung der Verbindlichkeiten verbleibender positiver Saldo der Errungenschaft, der sog. Vorschlag, wird unter den Ehegatten hälftig geteilt; jedem Ehegatten steht die Hälfte des Vorschlages des anderen Ehegatten zu. Ehevertraglich kann aber eine andere Teilung des Vorschlages vereinbart werden; es kann z.B. der gesamte Vorschlag (güterrechtlich) dem überlebenden Ehegatten zugewiesen werden, wobei durch eine solche Verabredung die Pflichtteile nicht gemeinsamer Kinder nicht beeinträchtigt werden dürfen. Für den Fall einer solchen Änderung der hälftigen Vorschlagszuweisung (überhälftige Zuweisung) bringt das neue Erbrecht nun eine Klarstellung: Es ist nun geregelt, dass die über die Hälfte hinaus zugewiesene Beteiligung am Vorschlag bei der Berechnung der Pflichtteile des überlebenden Ehegatten oder eingetragenen Partners und der gemeinsamen Kinder und deren Nachkommen nicht hinzugerechnet wird. Die Pflichtteile berechnen sich demnach auf Basis des reinen Nachlasses, ohne Hinzurechnung der "überhälftigen" Zuweisung des Vorschlages an den überlebenden Ehegatten. Eine Aenderung der hälftigen Vorschlagsbeteiligung wird oft ehevertraglich vereinbart. Besteht das eheliche Vermögen z.B. nur aus Ersparnissen (die in die Errungenschaft fallen), kann der gesamte Vorschlag und damit das gesamte eheliche Vermögen güterrechtlich dem überlebenden Ehegatten zugewiesen werden; vorbehalten blieben allfällige Pflichtteilsansprüche nicht gemeinsamer Nachkommen. Ob eine solche “Meistbegünstigung” des überlebenden Ehegatten sinnvoll ist, ist auch hier im Einzelfall zu beurteilen.

Schenkungsverbot

Das neue Erbrecht bietet nicht nur neue Gestaltungsmöglichkeiten; es enthält auch Einschränkungen. So können beispielsweise letztwillige Verfügungen oder auch Schenkungen, ausgenommen Gelegenheitsgeschenke, die mit den Verpflichtungen aus einem Erbvertrag nicht vereinbar sind und im Erbvertrag nicht vorbehalten worden sind, von den Erben angefochten werden. Es ist deshalb bereits bei der Abfassung eines Erbvertrages genau festzulegen, ob und gegebenenfalls in welchem Umfange spätere Schenkungen oder Verfügungen getätigt werden dürfen, insbesondere wenn dadurch die erbvertraglichen Begünstigungen geschmälert werden.

Klarstellung der Herabsetzungsreihenfolge

Geregelt ist nun in den erbrechtlichen Bestimmungen auch die Reihenfolge der Herabsetzung im Falle von Pflichtteilsverletzungen. In erster Linie ist der Erwerb gemäss der gesetzlichen Erbfolge (Intestatserbrecht) herabzusetzen, in zweiter Linie Zuwendungen von Todes wegen und zuletzt die Zuwendung unter Lebenden.

Klarstellung für Versicherungsansprüche

Schliesslich enthält das neue Recht auch eine Klärung bei Versicherungen und Ansprüchen aus gebundener Selbstvorsorge (Säule 3a). Die Ansprüche des Begünstigten auf die Versicherungsleistung fallen nicht in den Nachlass, sondern es steht dem Begünstigten ein direkter Anspruch gegen den Versicherer zu, den er selbständig geltend machen kann. Allerdings ist der Rückkaufswert des Versicherungsanspruchs zum (Nachlass-) Vermögen des Erblassers hinzuzurechnen und unterliegt gegebenenfalls der Herabsetzung, wenn der Pflichtteilsanspruch der Erben durch die versicherungsrechtliche Begünstigung verletzt wird.

Beurkundungspflicht bei Genossenschaften

Mit Inkrafttreten der Aktienrechtsrevision am 1.1.2023 muss nun auch die Errichtung einer Genossenschaft neu zwingend öffentlich beurkundet werden (Art. 830 OR). Ebenso muss jede Statutenänderung einer Genossenschaft öffentlich beurkundet werden (Art. 838a OR). Dem Handelsregister ist bei jeder Statutenänderung eine vollständige neue Fassung der Statuten einzureichen (Art. 22 Abs. HRegV). Bei einer Teilrevision der Statuten ist nur der Beschluss über die Änderung einzelner Bestimmungen öffentlich zu beurkunden; es ist nicht notwendig, die gesamten Statuten im Rahmen der öffentlichen Beurkundung neu festzusetzen resp. zu bestätigen. Dem Handelsregister ist dennoch eine konsolidierte Fassung der vollständigen Statuten von einer Urkundsperson beglaubigt einzureichen (Praxismitteilung Eidg. Handelsregisteramt EHRA 1/22 vom 17.1.2022). Anders als bei der AG und der GmbH muss demgegenüber der Auflösungsbeschluss einer Genossenschaft nicht öffentlich beurkundet werden. Bei Genossenschaften mit mehr als 300 Mitgliedern oder bei denen die Mehrheit der Mitglieder aus Genossenschaften besteht, können die Statuten weiterhin bestimmen, dass die Befugnisse der Generalversammlung ganz oder zum Teil durch schriftliche Stimmabgabe der Genossenschafter ausgeübt werden (Urabstimmung).

In der Praxis haben die neuen Bestimmungen demnach zur Folge, dass im Falle einer Statutenänderung ein Notar an der Genossenschafterversammlung teilnehmen muss, der das Protokoll über die beurkundungspflichtigen Traktanden in öffentlicher Urkunde aufnimmt.

Neues Aktienrecht - Handlungsbedarf?

Will man gewisse Möglichkeiten des neuen Aktienrechts nutzen, müssen die Statuten angepasst werden. So setzen z.B. ein Kapitalband, die Zulässigkeit einer virtuell abgehaltenen Generalversammlung, ein Tagungsort im Ausland oder die Einführung einer Schiedsklausel eine statutarische Grundlage voraus. Will man vorerst auf solche Möglichkeiten verzichten, besteht aktuell kein Anpassungs- und damit kein Handlungsbedarf.

Gewisse bisher geltende statutarische Vorgaben sind zudem unter dem neuen Aktienrecht entfallen (z.B. die Zulässigkeit der Umwandlung von Inhaber- in Namenaktien und umgekehrt). Solche Bestimmungen, auch wenn sie überholt sind, müssen aber nicht zwingend aus den Statuten gestrichen werden, sondern können vorderhand bestehen bleiben.

Enthalten die Statuten Bestimmungen, die dem neuen Aktienrecht nicht entsprechen, müssen sie innert zwei Jahren angepasst werden. Nach Ablauf von zwei Jahren werden sie ungültig und können nicht mehr angewendet werden. Werden die Statuten nur teilweise angepasst, überprüft das Handelsregisteramt nicht, ob die bisherigen Bestimmungen dem neuen Recht entsprechen, es sei denn, es werde eine mit dem geltenden Recht nicht vereinbare Bestimmung neu eingefügt. Werden die Statuten total revidiert, müssen natürlich sämtliche Bestimmungen dem geltenden Recht entsprechen.

Es empfiehlt sich aber, nicht einfach zuzuwarten, sondern die Statuten auf ihre Uebereinstimmung mit dem neuen Aktienrecht zu überprüfen und überholte Regelungen gegebenenfalls an neue zwingende Bestimmungen anzupassen oder aus den Statuten zu streichen; es gelten dann die gesetzlichen Vorgaben. Ein guter Zeitpunkt für die Anpassung der Statuten wäre die ordentliche General- /Gesellschafterversammlung 2024. Für Gesellschaften, die von ihrem Aktionärs- bzw. Gesellschafterkreis her üblicherweise als Universalversammlung tagen, besteht ohnehin zeitlicher Spielraum.

Der Fall Freitas - Auswirkungen auf die Freizügigkeitsempfehlung der WEKO

Der Fall Freitas

Der Gerichtshof der Europäischen Union hat mit Beschluss vom 7. Januar 2015 (Verfahren T-185/14) die Individualklage gem. Art. 263 Abs. 4 AEUV von José Freitas, mit der die Ausnahme der Notare von der revidierten Berufsqualifikationsrichtlinie 2013/55/EG beanstandet wurde, wegen fehlender individueller Betroffenheit des Klägers als unzulässig zurückgewiesen.

José Freitas, ein portugiesischer Anwalt, angeblich auch als Notar tätig, hatte geltend gemacht, die Ausnahme der Notare von der Berufsqualifikationsrichtlinie stehe im Widerspruch zu den Urteilen des EuGH vom 24. Mai 2011, wonach die notarielle Tätigkeit der Notare nicht unmittelbar mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden und daher auch nicht von der Niederlassungsfreiheit ausgenommen sei. Mit der Ausnahme der Notare von der Berufsqualifikationsrichtlinie werde die Ausübung der Niederlassungsfreiheit faktisch verunmöglicht.

Das Gericht verneinte jedoch eine individuelle Betroffenheit des Klägers, da es ihm an den gemäss konstanter Rechtsprechung erforderlichen persönlichen und ihn besonders indivi-dualisierenden Eigenschaften fehle. Auch die ursprüngliche Richtlinie 2005/36 räume dem Kläger kein bloss ihm zustehendes Recht ein, sondern beziehe sich gleichermassen auf alle Wirtschaftsteilnehmer. Damit dürften Individualklagen zur Niederlassungsfreiheit im Rahmen der Berufsqualifikationsrichtlinien auch künftig aussichtslos sein.

Fehlinterpretationen in der WEKO-Empfehlung?

Welche Folgerungen ergeben sich daraus für die doch stark auf die EU-Rechtsprechung abgestützte Empfehlung der WEKO vom 23.09.2013 betreffend Freizügigkeit für Notare und öffentliche Urkunden?

Die WEKO hat aus den EuGH-Urteilen vom 24. Mai 2011 einen eigentlichen "Paradigmenwechsel" abgeleitet, indem der EuGH "die Geltung der europarechtlichen Grundfreiheiten auf die notarielle Tätigkeit ausgedehnt und Staatsbürgerschaftserfordernisse für unzulässig erklärt hat". Damit würden "innerhalb der EU für Notare auch die primärrechtlichen Regeln zur Anerkennung von Berufsqualifikationen" gelten . Bei Abfassung ihrer Empfehlung im September 2013 war der WEKO jedoch bereits bekannt, dass die "Frage der Geltung der sekundärrechtlichen Anerkennungsregeln für Notare" Gegenstand der unmittelbar vor ihrem Abschluss stehenden Revision der Richtlinie 2005/36/EG war; die revidierte Richtlinie 2013/55/EG wurde am 20. November 2013 verabschiedet. Mit ihrer Auslegung der EuGH-Urteile vom 24. Mai 2011 und ihren Schlussfolgerungen steht die WEKO alleine da. Zwar ist richtig, dass die (schweizerische) Staatsbürgerschaft künftig kaum mehr ein Kriterium für die Zulassung zum Notariatsberuf sein darf, d.h. für die Zulassung zur Ausbildung und zum Erwerb des Notariatspatentes entsprechend der jeweiligen kantonalen Gesetzgebung. Darüber hinaus besteht in den EU-Ländern aber auch Einigkeit, dass, entgegen der Einschätzung der WEKO, aus den Urteilen darüber hinaus keine Freizügigkeit der Notare herausgelesen werden kann. Massgebend ist Rz 98 im Urteil gegen die Bundesrepublik Deutschland vom 24.05.2011 (Urteil C-54/08), die lautet: "Dass mit den notariellen Tätigkeiten im Allgemeininteresse liegende Ziele verfolgt werden, die insbesondere dazu dienen, die Rechtmäßigkeit und die Rechtssicherheit von Akten zwischen Privatpersonen zu gewährleisten, stellt allerdings einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses dar, der etwaige Beschränkungen von Art. 43 EG rechtfertigen kann, die sich aus den Besonderheiten der notariellen Tätigkeit ergeben, wie etwa den für die Notare aufgrund der Verfahren zu ihrer Bestellung geltenden Vorgaben, der Beschränkung ihrer Zahl und ihrer örtlichen Zuständigkeit oder auch der Regelung ihrer Bezüge, ihrer Unabhängigkeit, der Unvereinbarkeit von Ämtern und ihrer Unabsetzbarkeit, soweit diese Beschränkungen zur Erreichung der genannten Ziele geeignet und erforderlich sind."

Die Urteile lassen somit den Vorbehalt individueller Zulassungskriterien durch die Mitgliedstaaten ausdrücklich zu.

Ausnahme der Notare von der Richtlinie 2005/36/EG

Am 20. November 2013, nur 2 Monate nach der von der WEKO in Kenntnis der laufenden Revision erlassenen Empfehlung, wurde die Richtlinie 2013/55/EU des europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 2005/36/EG über die Anerkennung von Berufsqualifikationen erlassen. Diese sieht vor, durch staatlichen Hoheitsakt bestellte Notare im Hinblick auf die besonderen und unterschiedlichen Regelungen, denen sie in den einzelnen Mitgliedstaaten in Bezug auf den Zugang zum Notarberuf und seine Ausübung unterliegen, vom Anwendungsbereich der Richtlinie 2005/36/EG auszunehmen. Art. 2 der Richtlinie 2005/36/EG wurde deshalb ergänzt durch einen Absatz 4 mit dem Wortlaut: "Diese Richtlinie gilt nicht für durch einen Hoheitsakt bestellte Notare". Mit dem Beschluss des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 7. Januar 2015 in der Sache Freitas ist zudem klargestellt, dass Individualklagen von Notaren zur Niederlassungsfreiheit im Rahmen der Berufsqualifikationen unzulässig sind.

Anpassungsbedarf der VDM

Die WEKO begründet ihre Empfehlung u.a. mit der strengen Anwendung der Bereichsausnahmen durch den EuGH und die eingeschränkte autonome Vertragsauslegung mit Rücksicht auf die aus dem Unionsrecht übernommenen Begriffe; diese Begründung scheint mit der revidierten Richtlinie 2013/55/EU überholt und das Freizügigkeitsabkommen auf die Tätigkeit der öffentlichen Beurkundung jedenfalls von hoheitlich bestellten Notaren nicht anwendbar. Damit stellt sich die Frage, ob die Notare nicht aus dem Anhang 1 zur VMD zu streichen sind. Dabei darf nicht vergessen werden, dass die Kantone zur Unterstellung der Notare offenbar nie angehört worden sind, wie dies in Art. 1 Abs. 3 BGMD vorgeschrieben ist. Die Unterstellung ist deshalb nach wie vor mit diesem Makel seitens des Verordnungsgebers behaftet. Mit der Streichung würde die Revision der Richtlinie 2013/55/EU nachvollzogen und die Frage der Freizügigkeit geklärt.

Stefan Schmiedlin

Basel, 16.02.2015